Die neuere Systemtheorie hat das mechanistische Maschinenbild von Organisationen durch eines ersetzt, das Komplexität und Selbstreproduktion durch Kommunikation in den Vordergrund stellt. Netzwerkdenken ergänzt einen wertvollen Blickwinkel, den die Systemtheorie so nicht bietet.
Netzwerke kann man sich mit dem Wirtschafts-Historiker Niall Ferguson vereinfacht als Antagonisten zur Hierarchie vorstellen. In seinem Buch „Türme und Plätze” legt er dar, wie Netzwerke Hierarchien stützen oder zerstören und umgekehrt Hierarchien Netzwerke für ihre Zwecke einsetzen oder auch gefährliche Netzwerke ausschalten können.
Es kann deshalb erkenntnisreich sein, sich Organisationen gemäß dem Soziologen Harrison White als Netzwerke vorzustellen, die aus Positionen und Identitäten bestehen, die um Einfluss und Kontrolle ringen. Wer ist zentral für Einfluss und definitorische Macht?
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Machtstrukturen und Einflusswege in denen nicht nur formale Hierarchien, sondern auch informelle Netzwerke betrachtet werden.
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Kommunikationsflüsse innerhalb der Organisation und mit ganz anderen Interessengruppen außerhalb, die für Erfolg und Fortbestand der Organisation wichtig sind.
Auch in Bezug auf den Markt ist das relevant, da Unternehmen ihre Identität auch in Abgrenzung zu Mitbewerbern finden. Hier gilt es:
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Strategische Positionierung eines Unternehmens zu definieren, indem es sich von Mitbewerbern differenziert.
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Interne Marktlogiken zu verstehen, z. B. Abteilungen als „Produzenten“ interner Dienstleistungen zu betrachten und ihre Beziehungen zu analysieren.
Organisationen bestehen aus Akteuren mit unterschiedlichen Perspektiven und Stimmen (Multivokalität). Dies kann genutzt werden, um:
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Kulturelle Spannungen zu moderieren, indem verschiedene Identitäten und Sinnzuschreibungen innerhalb der Organisation verstanden und in Veränderungsprozesse integriert werden.
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Change-Prozesse besser zu gestalten, indem nicht nur formale Regeln, sondern auch die „Erzählungen“ und Identitätskonflikte der Organisation berücksichtigt werden.
Netzwerke sind, das liegt in ihrer Natur, nur bedingt beeinflussbar. Deshalb sind sie bei den Gestaltern formaler Hierarchien oft nicht im Blick. Es lohnt sich aus der Sicht von Organisationsentwicklung, einen Blick dafür zu entwickeln, um gestaltend intervenieren zu können.
Ein praktisches Beispiel: Ein Unternehmen klagt über schlechte Zusammenarbeit zwischen Abteilungen – trotz klar definierter Prozesse und Strukturen. Die klassische Diagnose ist:
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Silodenken
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Fehlende Prozessdisziplin
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Unklare Verantwortlichkeiten
Durch den Blick auf Netzwerke inspirierte und spezifizierte Perspektive:
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Nicht die formalen Strukturen sind das Hauptproblem, sondern die Identitäten und wechselseitigen Erwartungen der beteiligten Akteure.
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Die Akteure handeln so, dass sie ihre Rolle/Identität gegenüber anderen behaupten – z. B. „Wir (IT) liefern Qualität – die anderen (Fachbereich) verstehen das bloß nicht.“
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Jede Abteilung beobachtet die andere durch eine Brille von Zuschreibungen und passt das eigene Handeln an diese Beobachtung an. Das führt zu Selbstverstärkung und Verhärtung.
Schritte in der Bearbeitung könnten dann sein:
1. Netzwerkdiagnose: Erhebung informeller Kommunikations- und Erwartungsstrukturen durch Interviews oder Netzwerkmapping.
2. Identitätsarbeit: In Workshops reflektieren Teams, wie sie sich selbst sehen und wie sie von anderen gesehen werden mit dem Ziel Rollen- und Erwartungsdynamiken bewußt zu machen.
3. „Switching ermöglichen“: Gestaltung von Formaten, in denen Perspektivwechsel und neue Rollenzuweisungen ermöglicht werden – z. B. Tandems zwischen Abteilungen, Rollentausch-Workshops.
4. Sinnfokussierte Kommunikation: Weniger Fokus auf Regeln, mehr auf gemeinsame Sinnkonstruktion: Wozu tun wir das gemeinsam? Wie passen unsere Identitäten zusammen?
Die Berater:innenrolle ist bei einer Netzwerkperspektive also nicht so viel anders als die eines systemisch Beratenden, da sie auf dem gleichen konstruktivistischen Fundament basiert. Der Fokus ist im ersten Schritt die Begleitung von sozialen Aushandlungsprozessen und die Gestaltung neuer Beobachtungs- und Dialogräume, auch wenn am Ende eine Optimierung der Prozesse herauskommt.