Einfache Komplexität

11.10.2017

Prof. Dr. Dirk Baecker im Gespräch mit David Agert und Holger Schlichting aus Anlass des PRAXISFELD Expertenforums 2017, Ausschnitt aus dem Gespräch vom 28.09.2017.

Nächste Gesellschaft – Technologien – Rezepte für Zukunftsfähigkeit

David Agert: Das Expertenforum hat den Titel „Führen und Beraten in der nächsten Gesellschaft – Rezepte für Zukunftsfähigkeit und Innovationen!?“. Was sind Ihre ersten Gedanken und Assoziationen, wenn Sie diesen Titel lesen, welches Wort oder Thema spricht Sie an?

Prof. Dr. Dirk Baecker: Da fallen mir sofort zwei Punkte ein. Erstens: das Stichwort der „Nächsten Gesellschaft“ ist nach wir vor ein experimentelles Stichwort, wir wissen noch nicht genau, ob wir tatsächlich in der nächsten Gesellschaft sind oder nicht eventuell eher in einer unruhiger gewordenen Form der modernen Gesellschaft. Andererseits haben wir die Einführung elektronischer Medien und die Instantaneität von kommunikativen Verknüpfungen im globalen Rahmen bereits seit mehr als hundert Jahren, sind da also schon tief drin in der nächsten Gesellschaft.

Das Stichwort der nächsten Gesellschaft ist für mich vor allem deswegen interessant, weil es Fragen aufzuwerfen erlaubt: Nämlich welche Technologien haben welchen Einfluss auf welche Art von sozialen Strukturen? Und es erlaubt diese sozialen Strukturen dann an der Moderne abzulesen. Und man kann fragen, wenn die Moderne bestimmte Dinge in der Politik, Wirtschaft oder Bildung erreicht hat, z.B. Demokratie oder kompetitive Marktwirtschaft, wie sieht all das dann in der nächsten Gesellschaft aus. Welche neuen Lösungen werden für die alten Probleme gefunden, wenn die alten Probleme modern auf diese oder jene Weise gelöst worden sind. Also sozusagen eine Heuristik der scharfen Beobachtung von Übergangsprozessen.

Und das zweite, das mir auffällt, ist nach wie vor die eigentliche Brisanz im Stichwort der Zukunftsfähigkeit. Zukunftsfähig ist man ja nur dann, wenn man tatsächlich in der Lage ist, mit einer unbekannten Zukunft umzugehen. Wie aber geht man mit etwas Unbekanntem um? Man kann sich natürlich sofort an Trendforscher dranhängen und sagen, Zukunft ist für mich als Trend absehbar, dann ist das Problem vom Tisch. Wenn man aber tatsächlich das Problem der unbekannten Zukunft, oder besser das Phänomen der unbekannten Zukunft, ernst nimmt, muss man sich fragen, was von dem, was ich heute tue, wird morgen wohl unter welchen Umständen noch welche Bedeutung haben können? Das heißt, es gibt kaum eine radikalere Frage an sich selbst, als das Eingeständnis, meine Zukunft und die Zukunft meines Unternehmens, meiner Organisation ist prinzipiell unbekannt. Das löst viel aus. Deswegen würde ich auf jeden Fall sagen, diese Frage muss dosiert werden. Man darf nicht dauernd von Zukunftsfähigkeit sprechen, weil man dann absolut blockiert ist.

David Agert: Wir haben mit dem Titel bewusst ein Spannungsfeld erzeugt, auf der einen Seite das "Rezept“, auf der anderen Seite die "Zukunftsfähigkeit“. Was ja auch ein Widerspruch ist. Es gibt eben nicht dieses Rezept für die Zukunft, die wir noch nicht kennen, oder?

Dirk Baecker: Doch, ich würde schon sagen, dass es dieses Rezept gibt. Und das kann man aus den, wenn man so will, Erkenntnistheorien der letzten 30 Jahre ableiten. Nämlich jede Unterscheidung mit der man arbeitet, mit dem Index der Ungewissheit zu versehen. Also zum einen verlassen wir uns im Moment auf etwas und wir verlassen uns gleichzeitig darauf, dass wir uns nicht verlassen können. Und zum anderen behalten wir aus den Augenwinkeln Alternativen zu den Schwerpunktsetzungen die wir haben, zu den USPs, immer mit im Blick. Und das heißt dann auf einer sehr konkreten Ebene: Wir ermutigen unsere eigene Organisation zu abweichenden Blickwinkeln auf dasselbe. Wir schätzen beispielsweise die Kollegin, die ständig von uns auf dem falschen Fuß erwischt wird und konstant in eine andere Richtung guckt. Wir schätzen sie. Und das nicht unter diesem Stichwort "Querdenker“, weil ums Querdenken geht es nicht, sondern es geht eigentlich eher um Querhandeln und um woanders hingucken, experimentieren. Das ist ein Rezept: Abweichungsbereitschaft kultivieren. Aber das schmerzt und das ist ein Rezept, das die Organisation nicht unbedingt realisiert sehen möchte.

Netzwerkdesign

Holger Schlichting: Sie stellen das Thema Netzwerkdesign in Ihren Texten sehr prominent raus, das findet man an anderen Stellen nicht. Produktdesign ist für jeden einleuchtend, dass man das braucht, ebenso Organisationsdesign. Kulturdesign ist vielleicht schon ein bisschen umstritten, da mag es Leute geben, die sagen, das ist ein Nice to have. Halten Sie das Thema Netzwerkdesign eigentlich für genauso wichtig wie die anderen drei Themenbereiche, im Sinne von, das wird in der nächsten Gesellschaft so prominent, dass man das gar nicht auslassen kann? Sie empfehlen ja dem Unternehmer, auch da in Netzwerke zu investieren, wo es vielleicht nur lose Kopplungen gibt, nur schwache Indizien, dass das irgendwie weiterführt.

Dirk Baecker: Genau, schwache Verbindungen pflegen, ist selbst ein paradoxes Rezept. Denn das Pflegen wäre ja schon ein Versuch, diese schwache Verbindung in eine starke zu verwandeln. Also gilt da wieder dieses, auch für mich noch schwer zu verstehende, Stichwort des Beobachtens aus den Augenwinkeln. Was passiert alles noch, was für mich interessant sein könnte, im Rahmen von Potentialität, also dieser Switch zwischen aktuellen Gesichtspunkten und potentiellen Gesichtspunkten, der ja für die Systemtheorie sehr wichtig ist. Man muss unterwegs immer so ein bisschen tänzeln.

Das Netzwerkdesign wird erst dann wichtig, wenn man Gründe hat oder zu haben glaubt, den Voraussetzungen, auf denen die eigenen Geschäftsmodellüberlegungen aufruhen, zu misstrauen. Also in dem Moment, in dem ich mich frage, was ist das politische, das rechtliche, das technologische Umfeld, oder auch was ist das pädagogische Umfeld, aus dem bestimmte Nachwuchskräfte wirklich kommen und was passiert dort gegenwärtig? Und kann ich wirklich davon ausgehen, dass das was ich in den letzten 30 Jahren kennengelernt habe, in den nächsten 30 Jahren auch gilt?

Netzwerke werden interessant an der Stelle, wo man eigentlich mit guten Gründen bisher den Cut gemacht hat, um zu sagen bestimmte Dinge wie Politik, Kultur, Wirtschaft muss ich halt voraussetzen und jetzt genau weiß, dass von dorther die massivsten Störungen kommen können. Wenn dieser Punkt mich erreicht, dann brauche ich kein Netzwerkdesign. Weil ich dann in meinem Netzwerk stecke und ob ich das kenne oder nicht ist eigentlich egal.

Digitalisierung ist in aller Munde, aber was heißt das überhaupt?

David Agert: Wir haben im Titel der Zukunftstagung das Wort „nächste Gesellschaft“ bewusst verwandt und nicht „digitalisierte Gesellschaft“. Trotzdem gibt es da einen engen Zusammenhang und Digitalisierung ist ja in aller Munde. Uns begegnet es aber nach wie vor oft, dass unter Digitalisierung die Frage verstanden wird „Kann ich mein Smartphone bedienen, oder nicht?“ Ich vermute, dass Ihr Begriff da deutlich weiter geht. Wie gelingt es Ihnen, dafür ein Gespür zu vermitteln, was Digitalisierung eigentlich für ein „großes Ding“ ist und dass es nicht um die Anleitung für mein Handy geht.

Dirk Baecker: Wir Soziologen haben es da einfach. Wir haben einen allgemeinen Medienbegriff, der für alle Verbreitungsmedien gleichermaßen gilt und eine eigene Medientheorie, so dass wir die Frage nach der Digitalisierung von vornherein sehr groß, nämlich gesellschaftstheoretisch aufziehen können. Wir gehen davon aus, mit dem Auftreten elektronischer digitaler Medien verändern sich die Möglichkeiten gesellschaftlicher Strukturfindung, von den Großsystemen der Gesellschaft wie Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst oder Religion bis in die kleinsten Interaktionseinheiten. Womit auch die Frage auftaucht, wie halte ich das aus, dass ein Gesprächspartner, während ich mit ihm rede, auf das Display seines Smartphone guckt. Wir Soziologen sind auf allen Ebenen der Interaktion - Organisation und Gesellschaft - immer zugleich unterwegs und haben einen hinreichend verallgemeinerungsfähigen Medienbegriff, um Digitalisierung eben nicht als irgendein Phänomen, sondern als ein spezifisches Phänomen von anderen Phänomenen, zum Beispiel der Verschriftlichung der Gesellschaft, zu unterscheiden und damit zu vergleichen. …

Es ist allerdings schon eine Zumutung, die man als Soziologe formuliert, wenn man den Leuten sagt, sie sollen sich doch bitte mal darüber klar werden, wie sehr das, was sie denken und tun, abhängig ist davon, dass irgendwann mal der Buchdruck erfunden worden ist. Dass es ein Vergleichswissen, Bücher, Autoren gibt und nicht mehr nur die eine Bibel oder den einen Koran. Wie sehr wir Produkte einer bestimmten medialen Konstellation sind. Die meisten halten die Umstände, unter denen sie leben, für so selbstverständlich, dass sie sich das nicht als Variable im Kontext einer Entwicklung von Gesellschaft vorstellen können und möchten. Die emotionale Reaktion dagegen ist stark.

Horizontalisierung der Organisation – unterwegs sein in Schleifen

David Agert: Wir beschäftigen uns ja mit der Operationalisierbarkeit der Theorien, die Sie aufstellen, bezogen auf unsere Zielgruppen wie Manager oder Berater. Und wenn man auf das guckt, was Sie zur nächsten Gesellschaft gesagt haben, was würden Sie denn als die Kernherausforderungen für den Manager bezeichnen, die daraus entstehen und welche Antworten hat vielleicht die Systemtheorie, um damit umzugehen und das zu operationalisieren?

Dirk Baecker: Die größte Herausforderung ist tatsächlich seit den 30er Jahren – die Länge ändert am Drama nichts – die Horizontalisierung der Organisation. Wir denken in hierarchischen Zusammenhängen, weil Hierarchie Ordnung garantiert und wir kennen dafür keine Alternative. Gottes Wille vielleicht noch, aber wohin der will, das weiß keiner so genau.

Horizontalisierung heißt im Wesentlichen, in Prozesskategorien zu denken. Und Prozesskategorien haben mit Rekursivität zu tun. Horizontalisierung ist Verzeitlichung in einem rekursiv verschalteten Prozess. Praktisch heißt das, ich habe mit meinen Lieferanten zu tun und muss deswegen bei meinen Kunden nachfragen, ob das Materialangebot der Qualitätsvorstellung entgegen kommt oder nicht, bin also in andauernden Schleifen unterwegs, auch als Manager. Das heißt, die zentrale Herausforderung im Rahmen der Horizontalisierung ist, den Manager immer wieder so in Arbeitsprozesse zu involvieren, dass er weiß, an welchen Stellen welche rekursiven Schleifen tatsächlich Sinn machen. Das geht ja eigentlich, wenn man es wiederum dramatisieren will, soweit, dass wir das Management eigentlich abschaffen müssen. Es geht um Selbstmanagementfähigkeiten in den jeweiligen Arbeitsgruppen. Das ist nicht neu, darüber diskutieren wir schon seit Langem.

Das Horizontalisierungsthema ist ein Thema, das alle Führungs-, Lenkungs- und Gestaltungsaufgaben in eine rekursive Einbettung in Prozesse hinein zwingt, für die wir keine einfachen Denkmodelle haben. Theoretiker müssen beschreiben, aber fühlen kann man es auch. Leute in der Praxis kriegen das hin, aber wenn sie an Ordnung und an Einheit denken, sind sie sofort in anderen Semantiken unterwegs und diese stehen quer zu dem, was sie mittlerweile tun sollten und eigentlich auch beherrschen.

David Agert: Wir arbeiten in der Regel mit Organisationen, die tatsächlich das lineare, hierarchische Ordnungsmodell haben und versuchen im Rahmen unserer Fähigkeiten und Möglichkeiten genau diese Horizontalisierung zu integrieren. Es gibt auch radikalere Ansätze, die versuchen die Hierarchie komplett abzuschaffen zugunsten anderer Modelle. Das ist nicht unsere Realiät. Es gibt aber tatsächlich, wie Sie sagen, keine einfachen Antworten, die man ablesen und „einbauen“ kann. Vor allem, weil die Organisation in der Regel ja bereits existiert und wir nicht auf der grünen Wiese anfangen neue Organisationen zu bauen. Wie würden Sie diesen Übergang beschreiben?

Dirk Baecker: Hierarchie abzuschaffen ist Unfug, völlig illusorisch. Ich glaube, es würde helfen zu sagen, die Hierarchisierung hat klassisch das Problem des Zusammenhangs zwischen Teilen und Ganzen gelöst. Hierarchie gibt Auskunft darüber, welche Teile auf welcher Ebene zum Ganzen welches Verhältnis haben. Davon müssen wir weg. Weil das Ganze ist jetzt der Prozess, der ökologische Zusammenhang, die rekursive Vernetzung von Wertschöpfungsprozessen.

Wohin wir kommen müssen, ist zu sagen, die Hierarchie wird reformatiert oder reformuliert auf der Ebene jedes einzelnen Teils. Das heißt, ich darf das Teil partiell hierarchisieren. Ich darf da strenge Regeln einführen, die von irgendjemand überwacht werden und die mit Sanktionsgewalt und so weiter durchgesetzt werden. Aber diese Hierarchie auf Ebene der Teile wird sofort aufgelöst, wenn das Teil aufgelöst wird. Und wird vielleicht sogar reformuliert, wenn das Teil in anderen Zusammenhängen der Kette Verwendung finden muss. Wir haben es also mit einer rotierenden, immer wieder heterarchisch kontrollierten Hierarchie zu tun. Aber die Idee, dass man sich von ihr verabschieden könnte, die ist illusorisch. Das ist eine Marketingidee, mit der bestimmte Leute dafür werben, irgendwie in Organisationen Freunde zu finden, die gerne träumen.

David Agert: Ja, bei manchen Theorien ist es eher ein Denkmodell, während Holocracy z.B. ja tatsächlich diese Regeln beschreibt, aber eben in einer sehr extremen Form.

Dirk Baecker: Ja, das finde ich aber auch sehr klug. Da wird in der Tat auf Gesamthierarchie verzichtet, da gibt es ein Teilen in Teile.

David Agert: Und alles ist zeitlich befristet.

Dirk Baecker: Ja, es ist zeitlich befristet. Also von außen gesehen würde ich sagen, der Organisationsgrad in den agilen Managementszenerien ist höher als er bisher in den Linienorganisationen war und zwar genau deswegen, weil die Zeitdimension dazu kommt.

Holger Schlichting: Wenn man dem Bild von Symmetrie der Kontrolle folgt, dann ist die Kontrolle in diesen scheinbar hierarchiefreien Systemen extrem viel höher, als in den alten hierarchischen Systemen. Also die Leute denken es wird freier und es wird eigentlich unfassbar viel kontrollierter.

Dirk Baecker: Und es gibt zwei Dimensionen, die einen darüber hinweg trösten. Diese Dimension "wir sind ja alle gemeinsam unterwegs" und es gibt niemanden sichtbar, der mich dominiert. Und die andere Dimension "Es ist ja alles im technologischen Medium verankert". Wir sehen ja von der  Flipchart bis zur Begleitung unserer Prozesse durch die elektronischen Medien wie es funktioniert. Das ist eigentlich meine Hauptthese in dem Feld. Die alte Sicherheitsgarantie "Hierarchie" wird durch die neue Sicherheitsgarantie "elektronisch vernetzbar" ersetzt. Es hat funktional denselben Stellenwert. Wenn es im Computer funktioniert, dann weiß man, an welchen Stellen man damit spielen kann, an welchen Stellen es möglicherweise bricht, an welchen man aufpassen muss. Das muss man bei der Hierarchie auch, aber eigentlich ist es das funktionale Gegenbild zur Hierarchie. Deswegen kann es sein, dass wir hier über Dinge reden, über die in 15 Jahren niemand mehr redet.

Holger Schlichting: Und was elektronisch abbildbar ist, ist die Wirklichkeit. Verrückt, oder?

Dirk Baecker: Ja, weil es vernetzt. Weil es beeinflussbar ist. Und weil ich selbst den Zugang dazu kontrollieren kann, glauben die Leute ja.

David Agert: Meine Beobachtung ist ebenfalls, dass in agileren Organisationen der Zeitanteil, den die Organisation braucht, um sich selbst zu organisieren deutlich höher ist, als in der klassischen Organisation, aber dadurch im Idealfall auch das Maß an Bewusstheit dafür, was überfällig ist und was weiter gehen und stärker werden muss. Es existiert eine viel aktivere Auseinandersetzung damit als in der klassischen Organisation, wo jeder für immer weiß, was er tut und alles definiert ist. Für Manager und Berater geht es um die Balance zwischen der Reflexion der inneren Ordnung und dem Blick zum Kunden im Sinne der Horizontalisierung, was sich natürlich wechselseitig stark beeinflusst. Wie beobachten Sie, wie weit Organisationen damit sind? Sind Manager und Berater in diese Richtung überhaupt übersetzungsfähig?

Dirk Baecker: Zu der Beschreibung würde ich noch ergänzen, die Art und Weise wie das Bewusstsein für Organisiertheit selbstverständlich wird: Erstens als Beitrag zur Erledigung von Aufträgen, die man für sinnvoll hält, weil der Kunde dahintersteht, oder weil man es dem Kunden erfolgreich eingeredet hat. Und zweitens, weil es meine eigene Kompetenz im Fertigwerden mit Prozessen nicht nur im fachlichen, sondern auch in sozialen und zeitlichen Fragen so unter Beweis stellt, dass ich eine Chance habe, auch woanders einen Job zu bekommen. Die Dimension der mitlaufenden Ausbildung und Weiterbildung zu möglicherweise noch stärkeren Kompetenzen im Feld der Prozessgestaltung ist so deutlich, dass die Leute nicht mehr wie früher mit dem Problem Asset Specificity, also der Festlegung auf eine spezifische Kompetenz, die nur in dieser einen Organisation gebraucht wird, konfrontiert sind, sondern eigentlich mit einer Asset Unspezifität. Das heißt, dass sie immer etwas lernen, was man woanders auch brauchen kann. Das ist schon ziemlich neu und macht eine andere Lust und Stimmung in den Betrieben, von denen ich so höre.

„Schmutzige“ Systemtheorie

David Agert: Bei unserer Arbeit bedienen wir uns bei Ihrem Modell von Produktdesign, Organisationsdesign, Kulturdesign und Netzwerkdesign, weil es uns tatsächlich hilft mit dem Kunden zu strukturieren, woran wir eigentlich gerade arbeiten und wie der Einfluss auf die anderen Bereiche ist. Ist das eine unerlaubte Vereinfachung oder genau der Weg, den Sie auch empfehlen?

Dirk Baecker: Unbedingt! Ich bin ja inoffiziell für die schmutzige Systemtheorie. Schmutzige Systemtheorie besteht darin, dass man sich die Modelle, die man braucht, rausgreift und den Rest erstmal auf sich ruhen lässt. Ich bin ein Vertreter der schmutzigen Systemtheorie, seit ich erlebt habe, wie Niklas Luhmann in seiner Vorlesung in Bielefeld immer viel Erstaunen, viele Rätsel und viel Faszination ausgelöst hat, aber wenn er sich mal an die Tafel gestellt und das Modell der nicht trivialen Maschine angemalt hat, alle plötzlich Bescheid wussten. Und er hatte auch eine so schöne Art und Weise, die verschiedenen Ansätze als Modellierungsangebot unter die Leute zu werfen „Macht was damit! Ich mache was damit, ihr könnt auch was damit machen und es muss nicht so aussehen wie bei mir. “ Und ich kenne auch bei mir selbst die enorme Ungeduld, die das Lesen von langen europäischen Texten auslöst. Ich will wissen, worum geht es eigentlich.

Also bitte, probieren Sie es und schreiben es auf, welche Erfahrungen Sie machen. Sagen Sie, an welchen Stellen das Quatsch ist und spielen Sie es dann in unsere einschlägigen Journale wie Organisationsentwicklung wieder zurück. Denn so lernen wir ja.

Komplexität – Kausalität – Einfachheit

David Agert: Beim Expertenforum wird eine sehr gemischte Teilnehmergruppe von Führungskräften und Beratern anwesend sein, Manager aus der Wirtschaft, aber auch aus dem sozialen Bereich oder dem kirchlichen Bereich. Können Sie einfach erklären, was die Teilnehmer mitnehmen werden, wenn Sie das hören, was Sie sagen werden?

Dirk Baecker: Ich versuche deutlich zu machen, dass sich Einfachheit und Komplexität gegenseitig nicht ausschließen. Eine Hierarchie, ein Team oder ein Projekt zum Beispiel sind einfache Lösungen für komplexe Problemstellungen. Gefährlich wird es immer nur dann, wenn man über der einfachen Lösung das komplexe Problem vergisst. Denn dann funktioniert auch die Lösung nicht mehr. Deswegen ist es meine Zielsetzung, meinen Lesern, Studierenden oder auch den Teilnehmern an einem Workshop ein Gefühl für das zu geben, was ich "minimale Komplexität" nenne.

Zum Beispiel die Komplexität der Sprache: Die minimale Komplexität bei Sprache ist, ich darf Worte und Sachen nicht verwechseln und ich muss davon ausgehen, dass jedes Wort sich eben nicht durch die Sache, sondern durch die Differenz zu anderen Worten bestimmt, und daher "symbolisch" ist. Ich habe also das Referenzproblem und das Symbolproblem. Und nur, wenn die beiden verstanden worden sind, und das war in der Menschheitsgeschichte ein großer Moment, als das verstanden worden ist, ist Sprache möglich. Der Anfang ist komplex und es bleibt bis zum Ende komplex, aber die Mechanismen, damit umzugehen, sind einfach.

Und das muss einem klar sein. Dann hat man eine Idee, einen Gedanken, der eine pragmatische Einfachheit hat, aber intellektuelle Komplexität. Das zu begreifen, braucht möglicherweise etwas Zeit.

Holger Schlichting: Wir erleben derzeit ja eher, ob es jetzt Trump oder die AfD ist, dass Einfachheit mehr zieht. In unserer nächsten Gesellschaft und all der Komplexität, die wir als intellektuelle Beobachter betrachten, gibt es den massiven Gegentrend – vielleicht gab es ihn auch schon immer – dass ohne Einfachheit eine Nachricht oder Story gar nicht mehr gehört und gesehen wird.

Dirk Baecker: Leute, die nach den fundamentalistischen Einfachheiten suchen, wollen die Welt gerne als eine Welt, die aus Bausteinen zusammengesetzt ist, beschreiben. Während jeder, der auch nur ein bisschen mit professionellen Ansprüchen unterwegs ist, in welchen Feldern auch immer, immer implizit zwischen Beobachtung erster Ordnung und zweiter Ordnung unterscheidet.

Der Philosoph Pascal hat als erster von „le double infini“ gesprochen und den Menschen als das fragile Wesen in diesem nach oben unendlich Großen und dem nach unten unendlich Kleinen beschrieben. Ein unglaublich starker Gedanke, der bei Luhmann dann diese schöne Idee des Doppelhorizonts von Kausalität hat. In seinem Aufsatz „Das Risiko der Kausalität“ sagt Luhmann, dass Kausalität im Grunde genommen eine Irritationsfigur ist, weil ich zwei Unendlichkeitshorizonte habe und nicht eine Ursache und eine Wirkung, sondern den riesigen Kreis von möglichen Ursachen und Wirkungen – die dann den Beobachter, der sagt „Aber der Kaffee wird weiß, wenn ich Milch reinschütte“, auffällig macht als jemanden der vereinfacht.

 

Dirk Baecker ist ein deutscher Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Kulturreflexion und Management an der Universität Witten/Herdecke. Zahlreiche Veröffentlichungen, die auch PRAXISFELD beeinflusst haben, gehen auf ihn zurück. Beim PRAXISFELD Expertenforum 2017 ist Dirk Baecker einer der Keynote Speaker.

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