Folge #16 Hierarchie in Organisationen

01.03.2022

Der Begriff Hierarchie löst bei vielen Menschen negative Gefühle aus. So ist es nicht verwunderlich, dass man bei den Entwicklungen rund um New Work und agile Organisationen viele Bestrebungen beobachten kann, Hierarchien zumindest abzuflachen oder durch selbstgesteuerte Einheiten zu ersetzen.

In einigen Organisationen kommt es dabei zu realen Veränderungen. In anderen Organisationen hingegen nur zu Effekten der Selbstvermarktung, bei denen Hierarchie elegant kaschiert wird, indem z.B. gängige Machtsymbole wie Büros, personalisierte Parkplätze, eigene Kantinen u.ä. abgebaut und durch Duzkultur und Pseudo-Mitgestaltung ersetzt werden.

Doch das Credo scheint klar: Das Alte muss weg, Hierarchien sind out. Die Führungsspitze ist auf Augenhöhe bedacht und Organisationen sollen sich immer mehr an einem von allen getragenen Zielbild entlang selbst organisieren. Das letzte Reservat in einer demokratischen Gesellschaft wird stückweise einem partnerschaftlichen Miteinander geöffnet.

Dauer: 1:13 Std.

 

Ausgelöst worden ist diese Entwicklung historisch schon sehr viel früher, als es die aktuellen Trends rund um die post-bürokratische Organisation(1) vermuten lassen. Die ersten größeren Versuche mit Teams und teilautonomer Gruppenarbeit in den 60er Jahren waren aus heutiger Sicht Vorboten einer sich kontinuierlich in Richtung Wissensgesellschaft wandelnden Arbeitswelt.

So schleichend wie alles begann, so klar ist die zeitliche und inhaltliche Überfrachtung von Führung in vielen heutigen hierarchischen Organisationen. „Wenn ihr wollt, dass ich das entscheide“, sagte ein Kunde von uns schon vor ein paar Jahren, „dann sind wir zu langsam“. In schnellen, flexiblen Märkten mit viel kundenspezifischer Dienstleistung wird der hierarchische Entscheidungsweg zum Hemmschuh und das funktionsübergreifend arbeitende Team rückt in den Fokus. So soll sich die Führungskraft heute möglichst viel raushalten, vielleicht noch den Rahmen setzen und sich bestenfalls sogar “überflüssig machen”.

Der Haken daran ist, dass Hierarchie jedoch eine Menge Funktionen erfüllt, die sich so leicht nicht ersetzen lassen. Man braucht noch nicht einmal das plakative Beispiel des Feuerwehreinsatzes zu bringen, bei dem angesichts eines brennenden Hauses unklare oder langwierige Entscheidungsprozesse ungünstig wären. Ganz generell sorgt Hierarchie neben potentiellen Geschwindigkeitsvorteilen für Unsicherheitsabsorption, wie Luhmann so schön sagt. Der Einzelne kann sich seiner Rolle und seiner Befugnisse sicher sein und im Allgemeinen kann auch der in der informellen Hackordnung Schwächere Unterstützung erwarten, weil in der Hierarchie Höherstehende ohne größere Verpflichtung zur Rücksichtnahme Konflikte entscheiden dürfen.

Wenn heute also vor allem die Probleme hierarchischer Führung beleuchtet werden, vergisst man allzu schnell, dass es sich hier bereits um Lösungen handelt. Jede Lösung produziert seine ureigenen Lösungsprobleme. Hierarchische, funktional differenzierte Organisationen reduzieren Komplexität, auch wenn sie ungeheuer komplex erscheinen mögen, während agile Organisationen an unerwarteten Stellen nicht nur Komplexität, sondern auch Formalisierung massiv erhöhen. Um diese Paradoxie kommt man nicht herum, auch wenn das oft in der Argumentation für das Neue unter den Tisch fällt.

Aktuell befindet sich der Umbau vieler Organisationen in vollem Gange. Die erwähnte notwendige Flexibilisierung, die Verbindung von bisher getrennten Funktionen und erhöhte Selbststeuerung sind vielfach wichtige Schritte. PRAXISFELD begleitet viele agile Bau- und Changemaßnahmen.

In der neuen Podcastfolge plädieren Holger Schlichting und David Agert natürlich nicht für den konservierenden Erhalt des klassischen Organisationsdesigns. Sie zeigen aber anhand von Beispielen und Erfahrungsberichten, dass vieles im agilen Umbau von Organisationen leichter würde, wenn man weniger aus einer diskreditierenden, normativen Perspektive schaut, sondern versucht, die jeweils passende Balance zwischen Vor- und Nachteilen von Hierarchie vs. Selbststeuerung aus funktioneller Sicht zu betrachten. Mit im Gespräch ist der Unternehmer Martin Mayer. Wir wünschen ein inspirierendes Hörvergnügen.

 

Literatur:

(1) Stefan Kühl „Wenn die Affen den Zoo regieren: Die Tücken der flachen Hierarchien“. Campus Verlag, 2015

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