Führung im Wandel: Was sich ändert und was bleibt

31.07.2023

Jeder weiß, was Führung ist. Und trotzdem werden schnell Begriffe vermischt, die man vielleicht unterscheiden will. Das könnte insofern interessant sein, da sich im Zuge von New Work und Agilitätskonzepten auch die Frage stellt, ob man denn noch (so viele) Führungskräfte braucht, wenn man versucht, mehr und mehr selbstorganisierte, selbstgesteuerte Organisationseinheiten zu bilden. Die These hier lautet, dass man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten sollte, da Führung als Funktion aus keiner Organisation herausoperiert werden kann. Deshalb folgt jetzt eine Begriffsdefinition in Kurzform, die im Wesentlichen auf den Soziologen Niklas Luhmann zurückgeht.

Die drei Unzertrennlichen

Führung ist eine von drei Möglichkeiten, Einfluss in Organisationen zu nehmen. Die anderen beiden sind Macht und Autorität.

Alle drei Möglichkeiten gibt es sowohl in einer formalen wie in einer informalen Variante. Die Grenzen zwischen formal und informal sind fließend. Häufig sind die formalen Einflussfaktoren verschriftlicht und vereinheitlicht, während die informalen aufgrund ihres Charakters mehr Zwischentöne und individuelle Anwendung ermöglichen.

Macht ist eine Kommunikation, die dann Macht gewinnt (!), wenn sie zugeschrieben wird, wobei sie faktisch darauf beruht, dass dahinter die Kontrolle der Befriedigung von Bedürfnissen steht.

Autorität basiert auf einer anerkannten Legitimation, die sich auf die Sachdimension (z.B. Fachentscheidungen zu treffen) in Organisationen bezieht.

Hierarchie

Darüber hinaus spielt bei der Beeinflussung (Steuerung) von Organisationen Hierarchie eine wichtige Rolle. Die Rangfolge legt in ihrer formalisierten Form die Verteilung von Macht und Autorität fest. Innerhalb der Hierarchie werden Entscheidungen von “oben” nach “unten” getroffen und kontrolliert. Jede Ebene besitzt dabei eine spezifische Funktion und Autonomie.

Führung kommt selten allein

Führung als basale Funktion benötigt Macht und Autorität – zunächst einmal – nicht.
Sie macht nichts anderes, als soziale Systeme aufrecht zu erhalten, und sei es auch nur für einen kurzen Moment der Gefolgschaft, welche mit der Annahme des Führungsimpulses eine Minimalstruktur schafft. Das Führung dabei keine Hierarchie braucht, zeigt sich an dem Phänomen der “Unterwachung“. Dieser ebenfalls von Niklas Luhmann geprägte Begriff meint die Situation, wenn Mitarbeitende ihren Chef führen. Durch gezielte Selektion und Mitteilung von Informationen bringen sie ihn im Erfolgsfalle dazu, in ihrem Sinne zu entscheiden.

Organisationen im Change

Diese Unterscheidung von Führung, Autorität und Macht hilft dabei, zu beobachten, wie sich diese drei (Sinn-)Dimensionen in Organisationen von ihren Schwerpunkten her verlagern können.

Dabei sind folgende Entwicklungen in Organisationen erkennbar.

1.) In dem Maße, in dem sich aufgrund von Fachkräftemangel und der Abhängigkeit von Wissensträgern die Machtverhältnisse zugunsten von Angestellten gegenüber dem Unternehmen verschieben, werden gleichzeitig die Möglichkeiten, über Machtkommunikation Mitarbeitende zu beeinflussen, geringer. Denn diese finden schnell einen neuen Job, wenn sie nicht angemessen behandelt werden. Macht zu zeigen, ist in vielen Organisationen ganz und gar nicht mehr sexy.

2.) Es findet eine Verlagerung von Macht zu Autorität statt. Zumindest in komplexen Organisationen mit hoher Anfälligkeit der Prozessketten gegenüber äußeren Einflüssen oder auch da, wo Entwicklungsarbeit geleistet wird. In interdisziplinären Teams wird Einfluss über Fachautorität gewonnen. Aus Mangel an Alternativen oder um weiterzukommen, vertraut man dem Fachexperten, den man vielleicht nicht ganz versteht, dem man aber fachliche Autorität zuschreibt. So kann entschieden werden, damit es weiter geht. Andere Führungsimpulse entstehen z.B., wenn man schon nicht mehr bei allen Inhalten mithalten kann, durch Fachlichkeit bei der Gestaltung des Gruppenprozesses. Das ist dann beispielsweise die Autorität des moderierenden Scrum-Masters, der ja kein Vorgesetzter ist.

3.) Da, wo Führung sich nicht auf das sachlich “Richtige” und auf exklusives Wissen berufen kann, wird Führung wieder erkennbar als das, was es schon immer war: Die Erzeugung von Gefolgschaft über die Sicherstellung, dass es weiter geht.

Führungskraft vs. Führung als Funktion

Soweit zunächst zur Trennung der Begriffe, die gleich wieder gekoppelt werden :-). Für alle sichtbar ist die Koppelung klassisch da, wo man Führung auf Personen zurechnet. Am besten auf starke. Oder empathische? FührungsKRÄFTE bedienen sich natürlich Macht und Autorität. Aber Führungskräfte sind etwas anders als Führung als Funktion. Führung stellt das Überleben des sozialen Systems und bei Organisationen somit auch deren Erfolg dadurch sicher, dass es Situationsdefinitionen und Verhaltenserwartungen so wirksam koordiniert und lenkt, dass kommuniziert, organisiert, produziert, verkauft und geheilt werden kann.

Funktion von Führung

Dabei wird Führung als Funktion vor allem dann gebraucht, wenn in rasch wechselnden Umwelten Normen in Frage gestellt und Routinen nicht aufgebaut werden können, es also ein kontinuierliches Sensemaking benötigt, um Gefolgschaft zu sichern für die neuen Entscheidungen, die Führung zumindest initiiert.

Mehr Agilität durch Empowerment und Rollenvielfalt

Mit der Unterscheidung von Führungskraft und Führung als Funktion gewinnt man eine neue Freiheit. Mit dieser Freiheit wird vielerorts unter Überschriften wie agile Rollenkonzepte bereits gearbeitet; oft auch noch experimentiert. Hier wird die Funktion der Führung häufig auf mehrere Personen auf eine begrenzte Zeit verteilt. So entstehen Rollen wie die eines Moderators, einer Dokumentarin, eines Terminkoordinators, etc., die keine disziplinarische Macht haben. Die Kritik an der Verdichtung von hierarchisch legitimierter Machtbefugnis, Fachentscheidungskompetenz und Führungsauftrag in einer Person, die in der Regel nicht alles gleich gut kann, hat hier zu einer Dekonstruktion geführt.

Symmetrie und Asymmetrie

Beziehungen sind (zu einem bestimmten Zeitpunkt) entweder symmetrisch oder asymmetrisch. Hierarchien gewährleisten Asymmetrie. Dann weiß jede:r, was geht und was nicht. Symmetrische Beziehungen entsprechen viel mehr unserem heutigen Wertebild von Gleichheit. Wir sprechen dann von Augenhöhe und wünschen uns, dass man Themen gemeinsam angeht. Leider tendieren rein symmetrische Beziehungen im Konfliktfall zu Eskalation. Oder zur Vermeidung des Themas oder des Kontaktes, um den Konflikt zu vermeiden. Um in Organisationen also Entscheidungen herbeiführen zu können, muss auch formal Asymmetrie hergestellt werden. Also eine Hierarchie eingeführt werden.

Hierarchie ist immer da, nur anders

Man kommt um Hierarchie nicht herum, denn Organisationen müssen entscheiden, sonst hören sie auf zu existieren. Allerdings bekommt Hierarchie in agilen Organisationen eine andere Gestalt. Sie wird dynamisiert und immer wieder neu verteilt. Sie kann in einem Moment über eine Gruppen-Entscheidungsverfahren gewährleistet werden (was Führung braucht) und im anderen über die Delegation der Entscheidung an eine Einzelperson, die sich vielleicht gut mit dem Thema auskennt.

Agilität und Selbstorganisation braucht feste Strukturen und Routinen

Damit die Funktion der Führung auch in diesen dekonstruierten, dynamischen und dezentralisierten Organisationen wirksam werden kann, braucht es

1.) Etwas “Zentrales”, also eine Governance, eine Verfassung wie in der Holokratie bzw. allgemein gesprochen Normen und Vorgaben, die für Wiedererkennbarkeit bzw. Stabilität und einen Handlungsrahmen sorgen.

2.) Eine Funktion, die gewährleistet, dass auch am System gearbeitet wird, also Strukturen angepasst werden können. Das ist in Systemen, die auf gemeinsames Entscheiden angelegt sind, übrigens viel schwieriger als in Systemen mit unabhängigen Einzelentscheider:innen. Klassische Hierarchien sind mit vielen Entscheidungen nicht nur schneller, sondern auch innovativer/radikaler, so dass kollegiale und konsensuale Systeme sich etwas einfallen lassen müssen, um nicht zu erstarren.

3.) Da die Führung im Sinne von Stabilisierung der Erwartungen zumindest in großen Teilen wechselseitig durch die Kolleg:innen in Form von sozialer Kontrolle vorgenommen wird, ist diese Beobachtung und Kommentierung vor allem durch ein formales Regelwerk und durch Rollen legitimiert, wobei letztere eben auch nicht aus der Rolle fallen dürfen, der Spielraum ist klein.

Der Anspruch an den Einzelnen steigt

Die Gründe für agilere, selbstorganisierte Arbeit haben wir jetzt nicht aufgeführt. Wir halten es mit Dirk Baecker, der sagt: “Die größte Herausforderung ist tatsächlich seit den 30er Jahren – die Länge ändert am Drama nichts – die Horizontalisierung der Organisation. Wir denken in hierarchischen Zusammenhängen, weil Hierarchie Ordnung garantiert […]” Was wir bei der “Horizontalisierung der Organisation” verlieren, ist die Filterfunktion und die Unsicherheitsabsorption, die die bisherige, klassisch hierarchische Führungskraft geleistet hat. Stattdessen braucht es eine gesteigerte Konfliktkompetenz sowie die Fähigkeit, sich in wechselnden Rollen zu bewegen und die Notwendigkeit, sich nicht nur an Fachentscheidungen, sondern zuweilen auch an der Arbeit an Entscheidungsprämissen zu beteiligen. Das will gelernt, gekonnt und gewollt sein.

Kein Wunschkonzert?

Es geht aus unserer Sicht, jenseits aller Managementmoden, bei den oben beschrieben Phänomenen um eine “notwendige” Entwicklung. Wir sind inmitten eines großen Umbruchs innerhalb der Organisationswelt. Und da wir mittendrin sind, ist es auch schwer, den Überblick zu behalten. Allerdings sind Horizontalisierung, Dynamisierung und Fragmentierung der Organisation und damit auch der Funktion von Führung eben nur da sinnvoll, wo sie auch sinnvoll sind. Was nicht immer leicht zu entscheiden ist. Für viele Organisationen ist es möglicherweise viel effizienter und effektiver, wenn die bisherige Führungsrolle als solche bleibt, aber angepasst wird. Bzw., auch das passiert vielerorts, sind Mischformen zu beobachten, die sich funktional an dem ausrichten, was die jeweiligen Organisationsbereiche wirksamer werden lässt.

Schlusswort, aber nicht das Ende

Es wird also ganz sicher nicht so bleiben, wie es ist. Und andererseits wird sich keines der beschriebenen Gestaltungs- und Einflusselemente in Luft auflösen. Ob wir wollen oder nicht, wir werden weiter mit Macht, Hierarchie und Autorität und immer mit führen und geführt werden leben müssen. Es lohnt sich vor allem, in Ruhe zu schauen, was für die eigene Organisation funktionieren könnte. Ein Anfang dafür wäre es, jenseits von normativen Konzepten mit gut-schlecht Bewertungen oder modern vs. veraltet Etikettierungen, Unterschiede zu bilden, die in der jeweiligen (Markt-)Situation einen Unterschied machen. Das sind dann keine Rezepte, kein “One size fits all”, aber man weiß schon mal mehr, was man da eigentlich tut. Das ist doch schon mal was.

Mehr zu diesem Thema finden Sie auch in unserem Interview mit Professor Dirk Baecker: https://www.praxisfeld.de/de/blog/articles/einfache-komplexitaet

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